Gestern habe ich mich entschlossen, die Welt auszusperren. Das Handy offline zu nehmen. Die Verbindung zu kappen. Mit all der Unsicherheit und Angst, die so eine Entscheidung mit sich bringt. Mir war plötzlich alles zu viel. Und ich habe zu spät erkannt, dass ich wieder einmal über meine Grenzen gegangen bin.
Alles fing damit an, dass ich mit ein paar Freundinnen Sprachnachrichten austauschte. Etwas völlig alltägliches. Wir sprachen über persönliche Probleme und Entscheidungen, die getroffen werden sollten. Eigentlich nichts Außergewöhnliches. Aber bei mir sprang, ohne dass ich es rechtzeitig erkennen konnte, mein Automatikmodus an. Ein altes, inneres Programm aus meiner Kindheit.
Ich habe schon früh gelernt, jedes Problem meines Umfelds aus dem Weg schaffen zu müssen. Koste es, was es wolle. Ich war/bin dafür zuständig, dass mein Umfeld glücklich und zufrieden ist. Natürlich weiß ich, wie schräg das ist. Ich kann keiner meiner Freundinnen ihre Verantwortung abnehmen oder für sie Entscheidungen treffen. Trotzdem passiert es mir noch viel zu häufig, dass ich alles daransetze, die Probleme Anderer lösen zu wollen.
Als ich gestern also mit meinen Freundinnen chattete, bemerkte ich plötzlich, wie die Unruhe in mir anstieg. So eine Art inneres Vibrieren, das den gesamten Körper erfasst. Ich habe dann eine geführte Atemmeditation gemacht, weil ich dachte, damit etwas Entspannung zu finden. In gewisser Weise funktionierte es auch. Meine Muskeln lockerten sich ein wenig, aber mein Inneres vibrierte fröhlich weiter. Ich wusste nicht mehr, wohin mit mir und griff automatisch zu meinem Handy. Und da war plötzlich dieser Moment, in dem ich realisierte, dass ich Abstand brauchte. Ich musste mich um mich selbst kümmern. Also stellte ich das Internet an meinem Handy aus und legte es aus meinem Sichtfeld.
Was jetzt?! Sollte ich nun meine Skillskette anwenden, obwohl ich mich relativ ‚klar‘ fühlte?! Oder lieber gleich meinen Bedarf nehmen?! Mann, immer diese Entscheidungen! Was ist, wenn der Bedarf bei Unruhe gar nicht hilft?! Und was ist, wenn ich durch die Skills noch weiter hochfahre?! Schließlich sind sie dazu da, mich aus Zuständen zu holen, in denen ich nicht mehr klar denken kann. Was soll ich denn bloß tun? Ich fühlte mich so als wäre alles Gelernte einfach weg.
Aber irgendetwas musste passieren, wenn ich nicht komplett durchdrehen wollte. Ich musste aktiv werden, eine Entscheidung treffen und handeln. Also entschloss ich, doch meine Skillskette auszuprobieren. Ich machte Musik an, holte das Coolpack aus dem Gefrierfach und schüttete mir ein Brausepäckchen in den Mund. Dann tanzte und sang ich so laut, wie ich konnte. Ich möchte gar nicht wissen, was meine Nachbarn gedacht haben. Drei Lieder lang war ich in Bewegung und schüttelte mir die Seele frei. Danach drückte ich das Coolpack mit Handtuch auf mein Brustbein. Meine Güte, tat das gut! Langsam wurde ich etwas ruhiger.
Den restlichen Abend hörte ich Musik und malte an meinem Bild weiter. Das Handy blieb außer Reichweite – offline. Einerseits war das ein richtig befreiendes Gefühl, andererseits hatte ich Angst, meine Freundinnen vor den Kopf gestoßen zu haben. Schließlich habe ich sie von jetzt auf gleich ’stehen lassen‘. Und was ist, wenn ich nun etwas wichtiges verpassen sollte?! Aber seien wir mal ehrlich, wann verpasst man online ernsthaft etwas absolut wichtiges?!
Als ich heute noch einmal über alles nachgedacht habe, fiel mir auf, wie unsicher ich in sozialen Beziehungen bin, wenn die Kontrolle (Automatikmodus) wegfällt. Ich kann nicht erkennen, was gewünscht ist, wenn ich nicht direkt nachfrage. Möchte die Person sich nur etwas von der Seele reden und ein wenig Mitgefühl oder soll ich meine Sicht der Dinge einfließen lassen? Und wie zum Teufel kann ich mitfühlend reagieren, ohne dass ich entweder kalt wie ein Stein bin oder emotional dermaßen überwältigt, dass es absolut Sinn macht, auf Autopilot zu gehen?!
Da ist es also wieder einmal – das Schwarz und das Weiß. Wo sind bloß die Grautöne?
Ich finde es super spannend, wie oft wir uns ähneln (fällt mir nicht nur bei dir auf, aber hier eben gerade bei dir). Obwohl ich weiß, dass ich nicht alleine bin mit meinen Problemen, tut es jedes Mal wieder gut, das zu lesen. Danke fürs Teilen!
Ich versteh das so gut, das „Umfeld versorgen Wollen“, die Unruhe, das schlechte Gewissen, den Automatikmodus und fühle sogar das Vibrieren, auch wenn es bei mir eher ein Kribbeln und Jucken ist.
Auch die Entscheidung: Aussitzen, Skillen, Bedarf fand ich immer schwierig. (Finde ich auch immer noch, nur dass „Bedarf“ weg gefallen ist.)
Wenn ich so „plötzlich“ off gehe, ist es mir immer wichtig, die Gespräche noch irgendwie zu beenden, damit die Kommunikation nicht kommentarlos abbricht. Das fände ich selbst nicht schön und versuche es zu vermeiden, wenn es geht. Wenn nicht, kann ich hinterher aber immer noch um Entschuldigung bitten. Manchmal lässt es sich nicht vermeiden.
Schön, dass du letztlich eine Lösung für dich gefunden hast!
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Liebe Hinata,
vielen Dank für deine Rückmeldung. Es tut gut zu wissen, dass ich mit meinem Empfinden nicht völlig alleine bin. Weißt du, was ich glaube? Es ist jedes Mal die bessere Wahl, sich für ein Handeln, z. B. Skills anwenden, zu entscheiden als es ‚einfach‘ auszusitzen. Du kannst mit skillen eigentlich nichts verlieren. Aber mir fällt es auch immer wieder schwer, mich dafür zu entscheiden. Ich möchte auch unbedingt lernen, meine Grenzen frühzeitig zu erkennen und entsprechend agieren zu können. Egal, wie das Aussehen mag. Das muss ja nicht zwangsläufig in einer Flucht enden. Du machst das schon echt ganz gut, dass du den Menschen noch Bescheid gibst. Normalerweise mache ich das auch, weil ich weiß, wie ätzend es ist, wenn mein Gegenüber plötzlich aus dem Gespräch verschwindet.
Hab noch ein schönes Wochenende!
Annie
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Danke für diesen bewegenden Einblick.
Wie wundervoll, dass du lauter gute Entscheidungen FÜR DICH treffen und durchführen konntest.
Die Nachbarn … vielleicht haben die sich sogar gefreut, dass du ihnen auf dem Kopf herum getanzt bist und – wer weiß – mit getanzt :-).
Vorschlagen möchte ich, dass du deinen Freund*innen auf jeden Fall davon erzählst, so dass sie vorgewarnt sind, wenn du so plötzlich von der virtuellen Sozialmedia-Präsenz verschwindest.
Ich habe mit einem ähnlichen Verhalten mal große Sorgen (Stichwort: Suizidgefahr) bei meiner damaligen Frau ausgelöst.
Andererseits – in so einem Moment, wie du ihn beschreibst, bleibt oft auch nur noch von jetzt auf gleich die Wand hochzuziehen und dahinter Schutz zu suchen.
Nochmals – danke für deine Beiträge hier!
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Hallo Klaus,
auch dir danke ich für deine Rückmeldung. Ja, vielleicht fanden es meine Nachbarn amüsant, mich lauthals singen zu hören. Unter mir wohnen ja junge Leute aus Asien, die immer nur für ne bestimmte Zeit in Deutschland zum Studieren sind. Für sie war es sicherlich seltsam, weil sie sehr sehr still sind. Da hörst du keinen Mucks 😄
Normalerweise warne ich meine online Kontakte vor, wenn ich mich etwas zurückziehe. Und wenn es nur ein Satz ist, dass ich gerade Zeit für mich brauche. Das finde ich auch nur fair. Es bedeutet auch, meine Grenzen frühzeitig zu erkennen und entsprechend zu agieren. Ich befürchte dafür noch einiges an Zeit zu brauchen.
Viele Grüße aus dem verschneiten Ruhrpott
Annie
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