„Was nehmen Sie aus dieser Sitzung heute mit?“ – erwartungsvoll schaut mich meine Therapeutin an. Ich mag solche Fragen nicht, weil sie mir Druck machen. Druck unbedingt die Antwort geben zu müssen, die sie hören will. Obwohl es um meine Sichtweise geht. Dabei gibt es kein ‚richtig‘ oder ‚falsch‘. Nach kurzem Überlegen antwortete ich also:
„Ich soll nicht immer alles so persönlich nehmen. Ich habe diese Woche trotz der vielen schwierigen Situationen gut überstanden. Hmmm…“
„Noch etwas?“
„Wie zum Beispiel?“
„In meinen Augen nehmen Sie etwas ganz Wesentliches mit. Sie sind kein schlechter Mensch!“
Das muss erstmal sacken. Im Grunde weiß ich, dass ich kein schlechter Mensch bin, aber unbewusst wirkt es wie eine fest verankerte Annahme. Diese Arbeitswoche war für mich emotional sehr schwierig. Es gab Momente, in denen ich wahnsinnige Angst hatte, alle könnten denken ich wäre ein absolut unfähiger Mensch, eine Lügnerin, eine Manipulatorin, einfach ’scheiße‘. Wenn diese Ängste da sind, kann ich mir noch so gut zureden, wie ich mag. Die Ohnmacht hält mich dann umklammert. Einzige mögliche Konsequenz ist Vermeidung – Flucht!
Mit etwas Abstand betrachtet gibt es genügend Hinweise, dass ich gute Arbeite leiste und keinesfalls auf der Abschussliste stehe. Ein Teil von mir weiß das auch und ist sogar stolz auf meine Leistung. Trotzdem taucht diese diffuse Angst immer wieder in schwierigen Situationen auf. Als ich das heute meiner Therapeutin erzählte, meinte sie ich könne schließlich nichts mehr verlieren, wenn ich mich selbst als schlechten Mensch sehe.
Wenn ich darüber nachdenke, woher diese Denkweise kommt, kann ich keinen wirklichen Beginn ausmachen. Während meiner Ausbildung habe ich oft Krankheiten vorgetäuscht, weil keiner wissen sollte, wie es mir wirklich geht. Da wusste ich auch noch nichts über meine Depressionen.
Mittlerweile fühle ich mich jedes Mal als Lügnerin, selbst wenn ich von meiner Ärztin arbeitsunfähig geschrieben werde. Ich erwarte jederzeit als Betrügerin überführt zu werden. Dabei hat bisher auf meiner jetzigen Arbeitsstelle noch keiner jemals irgendwelche Zweifel geäußert.
Das ganze Thema ist für mich noch so undurchschaubar – ich befürchte das wird mich die nächste Therapiezeit weiter begleiten. Einzelne Puzzleteile wie Mobbing, Herabwertungen, Ignorieren fallen mir spontan aus meiner Lebensgeschichte dazu ein. Wie wird man werde ich ein so festgefahrenes Lebensthema los? Aufdröseln, anschauen und dann verändern?! Ich bin nicht sicher, ob ich das will – so kontrovers es sich gerade anhört.
Ich bin kein schlechter Mensch!!!
Hey liebe Annie,
das Thema kenn ich nur zu gut, wenn auch bisschen auf andere Weise, aber ich denke sehr oft auch nicht gerade das Beste von mir und werte dann auch übelst schnell alles Mögliche gegen mich, obwohl das überhaupt nicht so gemeint ist.
Ich finds sehr schwer, sich daraus wirklich zu befreien. Der größte Schritt ist schonmal, es zumindest zu realisieren.
Mir hats geholfen, mir die unterschiedlichen Ursachen (negative Haltung der Eltern, Mobbing in der Schule, eigenes „Scheitern“ in einigen Situationen) nochmal anzugucken und die aktuellen Wertungen dazu in Relation zu sehn.
Wenn jetzt wieder so eine Situation auftritt, wo ich z.B. merke, das kommt von meinem Dad, dann mache ich mir immer wieder bewusst „nein, weder denken die anderen so über mich, noch ich selbst, das ist alles nur von ihm und diese Meinung kann er gerne behalten, ich möchte sie nicht“. Was noch ganz gut hilft, ist mir immer wieder bewusst zu machen, dass das reine Spekulation ist, was die anderen über mich denken und es Unfug ist, auf meine eigene Spekulation so arg zu reagieren. Aber leichter gesagt als getan, ich glaub das wird bei mir auch noch lange dauern, bis ich es mir auch so wirklich richtig glaube ;-).
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Liebe Jo,
es ist auch unheimlich schwer solche alten, tiefsitzenden Muster abzulegen, selbst wenn sie, wie bei uns, schon so bewusst sind. Mich ergreift da schnell die Angst und mit der Angst kommt die Ohnmacht. Ganz schwieriges Thema. Manchmal wird mir erst Tage später bewusst, was in mir abgelaufen ist. Daher ist es noch schwieriger die Situationen in dem Moment auszuhalten. Vielleicht hilft es ja gerade dann, wenn ich die Ohnmacht spüre tief durchzuatmen und mir den Satz ‚ich bin kein schlechter Mensch‘ zu sagen.
Grüße von Annie
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Dass es immer diejenigen sind, die keinen Grund haben, zu zweifeln, die aber genau das tun und daran sogar oft ver-zweifeln.
Und auch Menschen, bei denen die Arbeitsqualität niedrig und die Fehlerquote hoch ist, sind keine schlechten Menschen. Deren Qualitäten liegen dann eben woanders, indem sie z. B. immer fröhlich sind und gute Laune verbreiten oder nicht nachtragend, aber immer hilfsbereit sind, sehr mitfühlend und großzügig usw.
Jeder hat seine guten und liebenswerten Seiten und für jeden gibt es Menschen, die einen genauso mögen, wie man ist. Diese Erfahrung muss man aber auch erst einmal machen bzw. wahrnehmen, dass das auch für einen selbst gilt. Ich wünsch Dir, dass Dir solche Rückmeldungen „ich schätze Dich so, wie Du bist“ auffallen und Du sie nicht wieder vergisst.
LG Gabi
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Hallo Gabi,
ja leider ver-zweifeln wirklich immer diejenigen, die es gar nicht müssten. Erlebe ich ja aktuell auf der Arbeit. Klar gibt es auch wertschätzende Worte von meinen Vorgesetzten, die ich ‚eigentlich‘ glauben kann, aber an schwierigen Tagen übernehmen die Zweifel meine Gedanken.
Annie
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ta
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Hi Tanja,
ich vermute da ist etwas mit dem Beitrag schief gelaufen 🙂
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Oh, ich weiß so gut, was du meinst und was du fühlst. Doch ich bin so weit, dass ich diese alten Gefühle und Verhaltensmuster loswerden möchte. Dafür stehe ich nun schon eine Weile auf der Warteliste für eine Kunsttherapie. Bei der verspreche ich mir die größten Erfolge genug tief in mich eintauchen zu können. Einfach, weil ich mich ausdrücken kann, ohne den Umweg über die Sprache nehmen zu müssen. Hier in der Nähe gibt es dafür eine (bezahlbare) Gruppentherapie, die aber leider noch nicht angerufen hat, das es losgehen kann… Drück mir die Daumen!
Und dir wünsche ich genügend Kraft, deine Themen nach und nach angehen und verarbeiten zu können!
Liebe Grüße, Frauke
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Hallo Frauke,
Kunsttherapie?? Ich bin gespannt, was du darüber berichten wirst, wenn es losgeht. Für mich wäre eher die musikalische Richtung geeignet. Das mochte ich auch in der Klinik gerne. Bist du eigentlich noch ambulant bei einem Therapeuten? Ich weiß das gerade gar nicht.
Annie
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Hallo Annie,
gerade bin ich nicht in Therapie, habe bei einem Tief aber die Möglichkeit meine ehemalige Therapeutin anzurufen für einen Notfalltermin.
Leider ist es um die Kunsttherapie immer noch sehr still… Ich erzähl dir dann aber, wie es ist, sobald es (hoffentlich) irgendwan los geht…
Liebe Grüße, Frauke
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Ich kenne das sehr gut, es bleibt irgendwann nichts mehr über, für das man sich nicht selber geißelt, in Frage stellt oder sonstwie klein macht. Das reinste Hochstapler Syndrom. So richtig los bin ich das da nie geworden, aber es lässt sich daran arbeiten. Und es wird besser.
Um mal die Negierung weg zu lassen und ins Positive zu drehen: Ich bin überzeugt, dass Du im Gegenteil ein sehr guter Mensch bist 🙂
Alles liebe, Jo
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Danke liebe Jo, die Worte tun gut! Ehrlich gesagt, meine Therapeutin hat Recht. Wenn ich von mir selbst immer das Schlimmste annehme, kann ich nur diejenige sein, die scheiße ist und schlimmer geht es einfach nicht mehr. Wie hast du es geschafft dich in ein besseres Licht zu rücken?
Viele Grüße von Annie
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Mein Therapeut nennt das eine „tiefe negative Selbstüberzeugung“ – ich vermute, dass es etwas ist, das schon lange vor der Depression da war. Wo es herkommt? Ich habe es so gelernt. In vielen vielen Situationen, vor allem in der Schulzeit – die von Eltern nicht abgefangen, sondern bestärkt wurden. Und nun sollte ich es neu lernen, anders. Gar nicht so einfach, wenn man das schon so viele Jahre ungünstig gemacht hat. Positiver Gedanke: Das Gehirn ist formbar bis ins hohe Alter, es kann sich durch ausreichend „Umdenken“ auch umformen. Man kann die Hardware ändern, auf der die Gedanken laufen, ist das nicht cool?
Bei mir ist am Freitag das (Arbeits)Leben vollständig zum Stillstand gekommen. Innerer Zusammenbruch. Das ist erst mal ziemlich schlimm. Relativ neu für mich ist aber, dass ich die Situation selbst manage, dass ich der Handelnde bleibe – und dazu gehörte auch, Arbeit am Samstag abzusagen, obwohl es eine völlig beschissene Situation für andere Menschen im Team hervorgerufen hat. Aber es hat sich richtig angefühlt, es war für mich richtig. Sonst wäre ich jetzt in der Klinik. Das so straight und innerlich äußerst klar durchgezogen zu haben, daran muss ich mich erst mal gewöhnen. Was sonst so alles kommt in nächster Zeit? Keine Ahnung. Ich bin erst mal erledigt, alles schreit nach Pause und ich höre nicht mehr weg, ich will mir selbst endlich zuhören. Hoffentlich bleibe ich dabei. Und: Zum Glück sind Freunde da.
Dass Du kein schlechter Mensch bist, ist sonnenklar. Ich wünsche Dir, dass Du nach und nach immer besser ein Lebensgefühl finden kannst, das zu dieser gedanklichen Erkenntnis passt. Du hast es verdient.
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