Borderline, Depression

Ich bin depressiv, ich darf das!

Da mir das Thema Verantwortung während einer depressiven Phase immer wieder auf unterschiedliche Weise begegnet, würde ich gerne ein paar meiner Gedanken aufs virtuelle Papier bringen.

Dürfen wir uns hinter unserer Depression verstecken? 

Zum besseren Verständnis beginne ich mit einer ganz aktuellen Situation aus meinem Leben. Für heute hatte ich geplant mit einer (mittlerweile) Freundin aus der Selbsthilfegruppe zur Naturschutzjugend zu fahren, damit wir die verantwortliche Person für die Ehrenamtlichen kennenlernen können. Wir vereinbarten gestern Abend schon eine Uhrzeit (14 Uhr) und wollten heute noch einmal den genauen Treffpunkt abstimmen.

Im Laufe des Vormittags schlug ich ihr einen für uns beide gut erreichbaren Ort vor. Dann wartete ich … und wartete … und wartete. Um kurz vor zwei kam dann endlich ein Lebenszeichen. Sie hatte einen emotionalen Zusammenbruch, könne sich aber jetzt fertig machen und kommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich jedoch meinen Tag schon umgeplant, so dass ich gerade mitten in meinem Einkauf steckte.

Nachdem ich sie bat. mir doch nächstes Mal rechtzeitig Bescheid zu geben, damit ich mich besser darauf einstellen kann, ging mir der Gedanke durch den Kopf, ob es in Ordnung ist, jetzt wütend auf sie zu sein. Darf ich von einer Leidensgenossin eine rechtzeitige Information während einer emotionalen Krise erwarten?

Zuverlässig unzuverlässig

So zuverlässig ich jede Therapiestunde wahrnehme, umso unzuverlässiger bin auch ich hin und wieder mit Verabredungen. Bei mir entsteht schnell der Gedanke „Das ist mir alles zu viel!“. Wobei ich ‚alles‘ nicht wirklich definieren kann. Trotzdem gelingt es mir jedes Mal, rechtzeitig abzusagen und/oder einen neuen Termin vorzuschlagen.

Natürlich bin ich mit meiner Unzuverlässigkeit keinesfalls zufrieden. Eigentlich möchte ich ein zuverlässiger, pünktlicher Mensch sein, der für diese Eigenschaften geschätzt wird. Daher verstehe ich, wenn Andere nach meiner (kurzfristigen) Absage enttäuscht oder wütend sind.

Bei mir hingegen tritt eine sofortige Erleichterung ein und die innere Anspannung fällt ab. In diesem Moment erlaube ich mir, durch meine Erkrankung so sein zu dürfen. Gleichzeitig meldet sich jedoch ein unangenehmes Schuldgefühl, denn ich möchte meine Depression schließlich nicht als Ausrede benutzen.

Ab wann es ist einem Depressiven nicht mehr möglich Verantwortung zu übernehmen? Reicht ein Krisenmoment im Alltag aus? Muss sich derjenige in einer schweren Episode befinden oder sogar kurz vor dem Suizid stehen?

Ehrlich gesagt fallen mir keine zufriedenstellenden Antworten ein. Was ich allerdings aus eigener Erfahrung kenne, ist eine Art Unfähigkeit während einer depressiven Phase auf mein Umfeld zu achten. Ein Teil meiner Empathie scheint blockiert. Da passiert es schnell, dass ich jemanden vor den Kopf stoße und mich dabei sogar noch im Recht fühle.

Wie steht ihr zu dem Thema Verantwortung? Legt ihr sie während einer depressiven Episode gerne mal ab? Benutzt ihr eure Erkrankung vielleicht sogar als Ausrede?

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8 Gedanken zu „Ich bin depressiv, ich darf das!“

  1. Hallo Annie,

    puh, keine einfache Frage!

    Früher war es bei mir in schweren depressiven Phasen so, dass ich dann manchmal tagelang nicht auf Nachrichten von Freunden geantwortet habe, weil ich das Gefühl hatte, es überfordert mich in diesem Moment, auch nur ein paar Buchstaben per SmS zu tippen. Das habe ich mir irgendwann unter Selbstermahnungen abgewöhnt (heilsam war da vor allem der Effekt, als ich selbst dann irgendwann mal auf der anderen Seite stand, als Angehörige/Freundin geliebter depressiver Menschen). Seitdem bin ich bemüht, jede Nachricht guter Freunde, egal wie es mir geht, zumindest noch am gleichen Tag zu beantworten. Meist klappt das. Ich habe nun besser verstanden, wie man sich als Freund/Angehöriger sonst oft Sorgen macht, an der Freundschaft des anderen vllt zweifelt und anderes, was ich meinen Freunden gerne ersparen möchte.

    In einer damaligen Partnerschaft war auch das Problem, dass ich phasenweise den Großteil des Tages lethargisch verbracht und meinen Partner wenig bei Hausarbeit und Co. unterstützt habe. Das tat mir im Nachhinein sehr leid. Teils war es das Gefühl, einfach nichts mehr zu können, teils Resignation gegenüber der Krankheit („Es wird ja eh nicht besser“), manchmal auch unschmeichelhafter Weise „Ich bin krank, ich habe genug Probleme, diesen Tag auszuhalten das und das muss ich jetzt dann nicht auch machen.“ Eine ungesunde Mischung und ich bin sehr froh, mich da weiterentwickelt zu haben.

    Liebe Grüße
    Nebelherz

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    1. Liebe Nebelherz,
      bei mir gibt es auch Phasen, in denen ich mich selten bis gar nicht melde, weil ich meine Ruhe haben möchte. Allerdings bin ich dann auch nicht verabredet, so dass ich nirgends absagen müsste. Würde es dir denn gelingen in dieser schlechten Phase auch einen Termin abzusagen oder würdest du es einfach aussitzen? Meiner Meinung nach muss es auch kein Roman sein, ein einfaches „ich schaff es nicht“ oder „ich kann heute nicht“ reicht ja völlig aus.
      Du kannst stolz auf deine Weiterentwicklung sein!!!
      Herzliche Grüße von Annie

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      1. Hallo Annie,

        argh, jetzt habe ich doch glatt verpeilt, gleich beim Lesen auf deine Frage zu antworten, entschuldige bitte.
        Termine abzusagen schaffe ich eigentlich in schlechten Phasen gut, zumindest immer dann, wenn es Verabredungen mit Familie, Freunden, Unitermine etc. sind. Probleme gibt es eher im Bereich „Ich muss diese Bücher dann und dann zurückgeben, aber mir geht es gerade nicht gut“ – solche Termine verstreichen dann manchmal unerledigt und werden später nachgeholt.

        Liebe Grüße

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  2. Diese Frage stelle ich mir auch oft, ob ich meine Depression als Ausrede benutze. Bei mir schlägt es dann teilweise in die andere Richtung aus, dass ich mich selbst zu Sachen zwinge, für die ich eigentlich gar keine Kraft habe, weil ich mir sonst vorwerfe, dass ich meine Depression als Ausrede benutze. Danach geht es mir dann meist noch schlechter.

    Andererseits ist es mir in schweren depressiven Phasen auch schon passiert, dass ich Treffen nicht rechtzeitig absagen konnte. Das lag oft daran, dass ich zu lange geschlafen hatte, um frühzeitig absagen zu können. Ich schaffte es einfach nicht, so wach zu werden, dass ich mein Handy nehmen und eine Nachricht schreiben konnte. Im Nachhinein machte ich mir deshalb immer selbst Vorwürfe und empfand mich als schlechte Freundin / Tochter / Patientin, ect.

    Ich war auch schon in der Rolle, dass mir kurzfristig abgesagt wurde von einer depressiven Freundin. Und das hat mich sehr enttäuscht, obwohl ich wusste, wie es ihr geht. Ich denke, es ist völlig normal, dass du erstmal wütend warst. Du hattest die ganze Zeit auf eine Antwort gewartet und musstest schließlich deinen Tag umplanen. Der Unterschied ist, dass Menschen, die selbst betroffen sind, trotz kurzfristiger Wut / Enttäuschung wegen des Verhaltens des anderen, langfristig Verständnis haben und den Kontakt deshalb nicht einfach abbrechen.

    Es ist wirklich schwierig, eine Antwort darauf zu finden, ob man seine Depression als Ausrede benutzt oder in dem Moment wirklich nicht anders kann. Wie gehst du mittlerweile damit um?

    Liebe Grüße,

    Alice

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    1. Liebe Alice,
      ja das Schuldgefühl lässt uns mitunter über unsere Grenzen treten. Es bringt nur keinem etwas, wenn du dich zu Verabredungen zwingst, dir dabei jedoch die letzte Energie flöten geht. Gar nicht so einfach das im Auge zu behalten was? Ich bemerke meist erst hinterher wie anstrengend es doch gewesen ist.
      Wenn mir so etwas wie jetzt passiert, bin ich auch nicht langfristig wütend. Ich weiß ja wie es der Person geht und welche Mühe es in einer depressiven Phase machen kann seine restliche Energie noch zu mobilisieren. Trotzdem sollte so etwas nicht häufiger vorkommen.
      Noch ein schönes Wochenende!
      Annie

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  3. Vor sehr langer Zeit habe ich bei meinem Zivildienst mit psychisch Kranken gearbeitet. Ich hatte eine tolle Chefin, die immer sehr viel Halt für alle gegeben hat. Sie war ganz klar in allem. Und zu dem Thema sagte sie: „Psychisch krank sein ist ein Grund, aber keine Entschuldigung.“ Was so viel hießt wie: Wenn es nicht anders geht, geht es nicht anders. Aber als Ausrede taugt es nicht.

    Ich selber kenne das Thema natürlich mittlerweile auch aus anderer Perspektive. Trotz allen meinen Höhen und Tiefen kann man sich auf mich überwiegend ganz gut verlassen. Aber ich kann mich nicht auf andere verlassen. Das ist schwierig für mich. Wenn man depressive Menschen in seinem Umfeld hat, dann hilft das auch: Die verstehen, wie es einem geht. Es vermindert das Alleinsein mit dieser Krankheit deutlich, das tut gut. Aber zugleich ist es auch kein stabiles Umfeld, kein solider Halt – und genau den braucht man auch oft.

    So richtig ein Fazit daraus habe ich auch nicht. Für meine Zuverlässigkeit werde ich schon geschätzt, auch als Musiker und noch viel mehr als Tontechniker. Aber ansonsten ist Zuverlässigkeit auch leicht überbewertet. Im Zwischenmenschlichen habe ich damit noch keinen Blumentopf gewonnen, und vor allem keine Zuverlässigkeit zurückbekommen. Das ist ein Spannungsfeld für mich: Ich mag mich selbst, wenn ich zuverlässig bin – aber zugleich denke ich, manch anderer hat das gar nicht verdient, weil ich mich umgekehrt nicht auf ihn verlassen kann.

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  4. So ernst das Thema auch ist, bei „Ich bin depressiv, ich darf das“ musste ich schmunzeln. Es ist ein schmaler Grat, zu erkennen, wann etwas Ausrede / Unlust / Trägheit ist und wann es eben doch ein klares Krankheitssymptom darstellt. Ehrlichkeit und Selbstreflexion im Umgang mit sich selbst und mit anderen ist manchmal schwer, aber dennoch wichtig um Offenheit, Verständnis und Vertrauen zwischen Erkrankten und ihrem Umfeld zu schaffen.

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    1. Lieber Martin,
      ich habe es bewusst so provokativ formuliert, weil es wirklich ein schmaler Grat ist. Der Trotz in mir ist manchmal der Ansicht, ich darf so dysfunktional reagieren, wie ich es in den dunklen Phasen tue. Der Verstand ist glücklicherweise anderer Ansicht.
      Annie

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