Vor Kurzem las ich bei der lieben Therapeutenseele einen Beitrag zur Thematik des Schweigens während der Therapiesitzung. Mir war bisher gar nicht bewusst, wie sehr Stille selbst PsychotherapeutInnen vor Herausforderungen stellt und einen innerlichen Druck aufbaut, der erst einmal ausgehalten werden will.
Als ich mich das erste Mal entschloss, eine Psychotherapie zu beginnen, gelangte ich auf Empfehlung zu einer Psychoanalytikerin. Mir war zu diesem Zeitpunkt schon bekannt, dass diese Art von Therapie nicht gerade die kommunikativste ist. Allerdings war ich auf das, was mich dort erwartete überhaupt nicht gefasst – kein Entgegenkommen, keine Hilfestellung, kein Nachfragen: ganz einfach keinerlei verbale Kommunikation.
Natürlich hat mich das Schweigen verunsichert. Damals wusste ich selbst noch nicht genau, was mit mir los ist, wieso ich all diese undefinierbaren Gefühle und ‚Zustände‘ habe und an welchem Punkt ich überhaupt ansetzen sollte. Nach einigen sehr unangenehmen Wochen sagte ich der Therapeutin, dass ihre Sitzungen so effektiv seien, wie mit der weißen Wand in meinem Appartement zu reden. Das war dann auch das Ende unserer therapeutischen Zusammenarbeit. Wenigstens musste ich mich nicht auf das knallrote Sofa legen!
‚Therapeutisches Schweigen‘ begegnete mir danach noch so einige Male – im Einzel- wie auch im Gruppensetting. Doch keine der nachfolgenden Erfahrungen erreichte die Intensität wie bei der Analytikerin. Während meines ersten Aufenthaltes in der Tagesklinik startete jede Gruppensitzung mit absoluter Stille. Unser Therapeut schlug seine Beine übereinander und schaute erwartungsvoll in die Runde, sagte jedoch kein einziges Wort. Wir Patienten starrten vor uns hin als ginge es darum, den Wettbewerb des längsten Schweigens zu gewinnen.
Angeblich zeichnet gemeinsames Schweigen eine starke Gruppe aus. Keiner möchte Schwäche zeigen, in dem er die unangenehme Situation durchbricht. Umso länger ich jedoch an den Gruppensitzungen teilnahm, umso aggressiver wurde ich innerlich. Daher war ich froh als der Therapeut – übrigens auch ein begeisterter Psychoanalytiker – nach den ersten Wochen die unerträgliche Stille zum Thema machte.
Schwer auszuhaltende Stille
Ich bin ein schüchterner Mensch, der viele Ängste in sozialen Situationen mit sich herum trägt. Solange ich mit einer mir vertrauten Gruppe zusammen bin, in der ich nicht zwangsläufig etwas sagen muss, kann ich die negativen Gedanken und Gefühle unter Kontrolle halten. Wenn ich jedoch unbekannten Menschen in einer face-to-face Situation begegne, versuche ich jegliches Schweigen zu umgehen. Sobald sich eine unangenehme Stille aufzubauen scheint, überlege ich krampfhaft, was ich sagen oder fragen könnte. Meine Gedanken überschlagen sich, so dass ein vollkommenes Chaos droht.
Oh Gott jetzt sagt sie nichts mehr. Was könnte ich denn fragen? Was weiß ich über sie? Wieso schweigt sie auf einmal? Denk dir was aus, verdammt denk nach! Wenn ich jetzt nichts sage, dann wird die Stille den ganzen Raum einnehmen. Was denkt sie dann über mich? Wahrscheinlich mag sie mich sowieso nicht! Sie zwingt sich sicherlich mit mir hier zu bleiben, um nicht unhöflich zu wirken. Jetzt zeig endlich, dass du kein inkompetenter sozialer Trottel bist!
Wenn ich diese Gedanken auf den Prüfstand stelle, ist mir klar wie weit sie in vielen Fällen von der Realität entfernt sind – sie wirken geradezu lächerlich. Trotzdem haben sie eine riesige Macht auf meine Gefühlswelt und somit auf mein Handeln. Von der Zeit des Nachwirkens mal ganz abgesehen.
Verantwortung abgeben
Wie einige von euch schon mitbekommen haben, gründete ich mit zwei anderen Frauen eine Selbsthilfegruppe für junge Erwachsene mit Depressionen. Eine Selbsthilfegruppe benötigt einige äußere Rahmenbedingungen, die eingehalten werden sollten – somit auch einen ‚Moderator‘. Während der letzten beiden Treffen übernahm ich diese Rolle, da ich mich als Mitgründerin ein wenig in der Pflicht sah, eine Struktur vorzugeben. Das birgt allerdings Risiken, denn ich bin weder die Leitung noch die Therapeutin der Gruppe, sondern ebenso eine Betroffene. Ich trage nicht mehr und nicht weniger Verantwortung als jeder Einzelne von uns.
Meine Therapeutin hat mir daher für folgenden Dienstag eine Herausforderung mit auf den Weg gegeben. Ich soll schweigen – keine Vorstellungsrunde für neue Teilnehmer, kein Einleiten des Blitzlichtes, kein Hinweisen auf Regeln. Sobald sie es ausgesprochen hatte, schossen mir in Anflug von Panik eine Menge Fragen durch den Kopf.
Was ist, wenn keiner beginnt und eine unangenehme Stille entsteht? Erwarten die anderen Teilnehmer nicht mittlerweile von mir, dass ich diese Aufgabe übernehme? Was soll ich sagen, wenn ich angesprochen werde, wie wir nun vorgehen? Wenn ich die Aufgabe nicht übernehme, halten mich die anderen dann für scheiße? Kann ich es wirklich aushalten? Wie groß wird der innerliche Druck eingreifen zu müssen?
Ich bin sehr gespannt, wie ich mit der Situation umgehen werde. Zusammen mit meiner Therapeutin habe ich mir bereits auf einige der Fragen Antworten zurecht gelegt. Ob ich mich letztlich auf so unbekanntes Terrain ohne jegliche Struktur vorwage, kann ich noch nicht sagen. Meine Ambivalenz schreit Ja und Nein zugleich.
Wie geht ihr mit unangenehmen Schweigen um – egal ob im therapeutischen Setting oder unter Menschen? Könnt ihr die Stille aushalten oder durchbrecht ihr sie? Welche Gedanken schießen euch durch den Kopf?
Mir geht es diesbezüglich ähnlich wie dir. Wenn Schweigen herrscht zwischen meinem Gesprächspartner und mir, überlege ich auch krampfhaft, was ich sagen könnte. Und es kommen auch solche Gedanken in mir hoch, dass der andere mich für langweilig halten könnte, wenn ich jetzt nichts Tolles sage.
Die einzige Ausnahme ist, wenn ich einen Mensch sehr gut und lange kenne. Dann macht es mir überhaupt nichts aus, wenn man auch mal nebeneinander sitzt und schweigt.
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Hi Alice,
wenn wir einen Menschen länger kennen, wissen wir einfach wie er tickt und meist bin ich mir dann auch sicher, dass er mich ja irgendwie mögen muss, sonst wäre er längst weg. Du bist gerade in der Tagesklinik, oder? Wie läuft es dort denn so? Gibt es da in der Therapie auch diese unerträgliche Stille?
Annie
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Hi Annie,
ja besuche derzeit eine Tagklinik. Dort gibt es in den Therapien diese Stille nicht. Meine Mitpatienten sind fast alle sehr kommunikativ. Finde das auch sehr gut, da ich mich dadurch selbst traue, offener zu sprechen.
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Mich freut es zu lesen, dass du dich traust in der Tagesklinik etwas von dir preiszugeben. Ich werde auch die nächsten Woche hin und wieder an dich denken!
Annie
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Danke für die Verlinkung 🙂 Ich glaube, das Schweigen gehört zum therapeutischen Prozess genauso dazu wie das Sprechen – und ich bin sogar überzeugt, dass manchmal im Schweigen viel mehr gesagt wird als im Reden, nur eben ganz anders. Deshalb ist es wahrscheinlich auch manchmal so unerträglich, die Stille anzunehmen und sie auszuhalten… Bin gespannt, wie es dir heute in der Gruppe ergangen ist und was du davon berichtest!
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Liebe Therapeutenseele,
herzlichen Dank für deinen Kommentar! Ich stimme dir zu, dass im Schweigen eine Menge nonverbaler Kommunikation stattfindet. Die Frage ist, ob es ausgehalten werden kann und einen immer zielbringend vorantreibt? Bei mir war es definitiv nicht die richtige Wahl, da ich damals gar nicht damit umgehen konnte. Leider oder vielleicht sogar zum Glück (?) ist mir die Situation in der Gruppe erspart geblieben 😉
Es lief also ohne mich und laut den Teilnehmern sogar gar nicht schlecht! Vielleicht muss ich nächsten Di daher gar nicht viel aushalten, weil sich schon andere mitverantwortlich fühlen?
Noch ein schönes restliches Wochenende von Annie
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Ein einfühlsamer Beitrag zum Thema Schweigen. Vielen Dank, Annie!
Liebe Grüße Benno
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Herzlichen Dank Benno für deine positive Rückmeldung!
Ich wünsche dir einen schönen restlichen Sonntag.
Annie
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Ich denke, dass es für die meisten Menschen sehr schwer ist, Stille auszuhalten. Vielleicht sollte man unterscheiden zwischen: Stille nicht aushalten können mit anderen Menschen – und Stille mit sich selbst nicht aushalten können. Mit anderen Menschen kommt die Verunsicherung, die Rückmeldung fällt aus (zumindest die Verbale), ich werde zurückgeworfen auf mich selbst, auf mein drängendes „wie bin ich? wie wirke ich?“ – auf all meine Zweifel. In der Stille mit mir selbst können die Gedanken laut werden. Vielleicht auch die, die ich wirklich nicht haben möchte. Aber man kann nicht mit Absicht etwas nicht denken.
In der Stille muss ich mich selber aushalten. Und, wie Ulrich Schaffer irgendwo schreibt, das ist oft schon sehr viel. Sich wirklich selbst zu sehen und auszuhalten. Aber es ist auch ungemein wertvoll zu erfahren, dass man das kann. Man kann auch in der Stille vor sich selbst davonlaufen – in seinen MP3-Player, oder in verkrampfte sportliche Aktivitäten, oder in ablenkende Gefühle wie große Wut oder lähmende Trauer oder innere Aufgedrehtheit – genaugenommen ist es dann ja nicht mehr still.
In diesem Kommentar steckt auch viel von mir selbst. Ist ja logisch. Von meinem eigenen Weglaufen. Es gibt sehr viele Arten, vor sich selbst wegzulaufen. In ein fremdes Land gehen, zum Beispiel. Und keine funktioniert, weil man sich ja immer selbst mit dabei hat.
Vor ein paar Jahren hatte ich ein Erlebnis: Ich war mit einer guten Freundin in der Natur und wir haben sehr viel geschwiegen und die Verbindung zwischen uns war dennoch da. Vielleicht ist das der Punkt irgendwo… innerlich: Die Verbindung zu sich selbst erlauben, ertragen, sich dran gewöhnen, und irgendwann den Kontakt zu sich selbst zu lieben. Dann macht Stille nichts mehr aus.
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Wenn ich die Stille mit mir selbst nicht aushalten kann, dann mache ich irgendwas, was mich komplett ablenkt, z.B. Serien suchten oder PC zocken. Aber wie du schon schreibst, ist es unmöglich vor sich selbst wegzulaufen. Alles, was in uns ist, ist immer da – mal mehr, mal weniger präsent.
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Hallo Annie,
wollte eigentlich schon längst mal meinen Senf dazugeben, auch wenn ich bisher geschwiegen habe. 😉
Als ich im 2. Semester war, hatten wir ein Seminar, weiß gar nicht mehr genau was. Der Dozent hat es sich leicht gemacht und uns alle in Gruppen aufgeteilt und Referate halten lassen. Meine Gruppe hatte in etwa das Thema „Probleme in der Therapie“. Schweigen ist, gerade in der Psychotherapie, wo es ja darum geht, zu reden, echt auch für Therapeuten manchmal schwer auszuhalten. Ich fand einen Spruch von Uma Thurman aus „Pulp Fiction“ dazu klasse und passend. Sie sitzt in der Szene mit John Travolta in dieser Bar und irgendwann kommt ein Moment, wo sie sich nichts zu sagen haben und dann fängt sie wieder an zu reden und es kommt zu folgendem Dialog:
Mia: Don’t you hate that?
Vincent: What?
Mia: Uncomfortable silences. Why do we feel it’s necessary to yak about bullshit in order to be comfortable?
Vincent: I don’t know. That’s a good question.
Mia: That’s when you know you’ve found somebody special. When you can just shut the fuck up for a minute and comfortably enjoy the silence.
Wir müssen nicht immer reden. Auch in der Therapie nicht. Manchmal gibt es Momente, da ist (für den Moment) alles gesagt und/oder man denkt für einen Moment über das gerade geführte Gespräch alleine nach, ohne etwas auszuformulieren für Gesprächspartner. Finde ich absolut in Ordnung und sogar notwendig. Immer, wenn es um (unangenehmes) Schweigen geht, muss ich an den Dialog und vor allem Mias letzten Sätze denken. Mit manchen Leuten ist Schweigen auch angenehm und völlig ok. Sind das besondere Leute, wie sie meint? Weiß nicht. Schweigen ist gut. Man muss nicht immer reden. Ob mit Freunden oder in der Therapie.
Noch ein Zitat. Die letzten Worte von Prinz Hamlet von Shakespeare, ehe er stirbt: „Der Rest ist Schweigen.“ In diesem Sinne… :-X
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Liebe Sarah,
ich gebe dir vollkommen Recht, dass Schweigen und Stille nicht immer unangenehm sein muss. Es kommt bei mir auch sehr auf meinen Gegenüber an, ob ich es besser oder schlechter aushalte. In der Therapie komme ich mittlerweile auch schon besser damit klar, wobei da wenige stille Momente auftauchen, weil ich mich ganz gut strukturieren kann. Meine Therapeutin hilft mir auch weiter, wenn ich stocke, in dem sie Fragen stellt.
Annie
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Ich denke, es ist an dieser Stelle wichtig, zwischen dem Schweigen und dem Verstummen zu unterscheiden. Während es im Hamlet zunächst ja nur um ein rhetorisches Schweigen geht, beziehen sich seine letzten Worte „the rest is silence“ dann ja wirklich auf die ihn fortan umgebende Grabesstille. Und wahrhaft tragisch, dass im Ergebnis auch noch das Königreich Dänemark in die Hände des norwegischen Erzrivalen fällt. Manchmal gelingt es im Schweigen sicher, neue Räume zu öffnen, Bedeutung zu generieren oder sich einfach nur verbunden und mit der Welt im Reinen zu fühlen. In anderen Situationen kann die Stille aber auch bedrohlich und schwer auszuhalten sein, weil in ihr so viel Unaussprechliches und Unkommunizierbares enthalten ist – und um diese besondere Stille geht es ja im therapeutischen Prozess sehr häufig…
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