In meiner letzten Therapiesitzung ging es um das Erforschen meiner Persönlichkeitsanteile. Ich weiß schon etwas länger, dass in mir mindestens ein kindlicher sowie ein erwachsener Anteil existieren. Inwiefern es nun nötig ist, dies weiter aufzugliedern, kann ich nicht sagen, aber evtl. hilft es mir, mich Stück für Stück besser zu verstehen. Meine Therapeutin meint, das Ziel sei es, den positiven Anteilen mehr Aufmerksamkeit zu schenken und sie zu verstärken, so dass die eher negativ behafteten kleiner werden.
Wer lebt da also alles in mir??
Meine emotionalen Persönlichkeitsanteile – diejenigen Anteile, die mich emotional stark beeinflussen und die ich immer wieder gegeneinander abwägen muss, damit ich alltagstauglich bleibe. Gar keine einfache Aufgabe, bei dem ständig aufwirbelnden Gedankenchaos, die sie verursachen können.
Die Melancholikerin
Die Melancholikerin ist ein relativ großer und einflussreicher Teil meiner Persönlichkeit. Sie ist dafür verantwortlich, wenn ich mich schon morgens frage, ob sich das Aufstehen wirklich lohnt. Was soll der Tag schon bringen? Es ist alles sinn- und hoffnungslos. Ja, sie kann mir sehr gut einreden ich sei motivationslos und hätte jegliche Energie bis auf den letzten Rest verbraucht. Kurz gesagt: sie ist die laute Stimme der Depression!
Die Motivatorin
Die Motivatorin ist der Gegenpart zur Melancholikerin. Dieser Teil hat die schweißtreibende Aufgabe, jeden Morgen aufs Neue, gute Argumente für das Verlassen meines kuschelig warmen Bettes zu finden. Sie ist es, die mich antreibt nach dem Frühstück das Geschirr zu spülen, zu saugen, einzukaufen – mich nicht komplett hängen zu lassen. Gäbe es die Motivatorin nicht, wäre die Melancholikerin ein weitaus mächtigerer Anteil. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was sie anrichten könnte. Meiner Meinung nach halten die beiden sich die Waage – mal kippt es mehr zur einen mal zur anderen Seite, doch es findet immer wieder ein Ausgleich statt.
Die Hilflose
Die Hilflose ist die kleine verzweifelte Annie, über dich ich ja bereits in diesem Beitrag berichtet habe. Sie fühlt sich ohnmächtig, klein, verlassen und möchte nichts mehr als beachtet zu werden sowie Zuneigung, Wärme und Liebe erfahren.
Die Trotzige
Die Trotzige ist ebenfalls ein kindlicher Anteil. Im Gegensatz zur Hilflosen ist sie jedoch eine Kämpferin. Sie begehrt auf, wenn ihr etwas nicht passt. Damit zeigt sie deutlich, dass sie nicht bevormundet oder zu etwas gezwungen werden mag. Sie möchte ihre Entscheidungen aus sich selbst heraus treffen. Impulsives, unkontrolliertes Auftreten ist ihr Steckenpferd. In diesem Beitrag könnt ihr mehr erfahren.
Der Angsthase
Der Angsthase hat vor neuen, unbekannten Situationen Angst. Er lässt tausende Fragen auf einmal in meinem Kopf wie Unkraut aus der Erde sprießen. Es fängt fast immer mit „Was ist, wenn …“ an.
… ich die Aufgabe nicht schaffe?
… die Menschen mich nicht mögen?
… ich total inkompetent wirke?
… ich mich blamiere?
Die Selbstsichere/Selbstbewusste
Als ich in Amerika war, sagte mir meine Gastmutter eines Tages, es könnte helfen, wenn ich so tu als ob. Irgendwie erschien mir der Gedanke total absurd. Was bringt es so zu tun, als ob man etwas kann oder etwas fühlt, obwohl es gar nicht so ist? Ist das nicht sogar Selbstbetrug auf höchster Ebene? Sie meinte durch die ständige Wiederholung würde das Gehirn die Verhaltensweisen schrittweise integrieren, so dass es zur Wirklichkeit wird. Mir ist diese Vorstellung noch immer fremd, allerdings bemühe ich mich, es auszuprobieren. In Bezug auf meinen selbstbewussten Part bin ich sogar ziemlich sicher die Annie, die so tut als ob. Ich fühle mich weder sehr selbstsicher noch selbstbewusst. Solange meine Stimmung sich allerdings in einem neutral bis positiven Bereich bewegt, kann ich perfekt so tun als wäre ich es. Anscheinend fällt es von außen auch keinem auf, denn die Menschen um mich herum halten mich dann für kompetent. Irre wie sich die Selbstwahrnehmung von der Fremdwahrnehmung doch unterscheiden kann!
Die Skeptikerin
Der Name ist Programm. Sie ist gegenüber allen Vorschlägen, Hinweisen oder auch Erklärungen skeptisch. Sie muss einfach alles immer wieder hinterfragen, anzweifeln und wie eine Kuh wiederkäuen. Sehr energieraubend!
Die Soziale
Ja, auch so einen Anteil habe ich in mir, selbst wenn ich mich gerne zurückziehe und alleine sein mag. Die Soziale geht ins Café, um unter Menschen zu sein oder trifft sich mit Freunden – etwas trinken gehen, über Gott und die Welt reden, auch mal diskutieren. Sie sucht die Bestätigung, nicht völlig anders zu sein.
Und wer ordnet jetzt das ganze Chaos??
Meine Therapeutin stellte mir die Frage, wer ÜBER diesem wuseligen Haufen steht. Die erste spontane Antwort war ICH – nur wer ist denn Ich? Sind nicht alle mein gesamtes Ich?
Es gibt in meinem System eine rationale Persönlichkeit. Sie wägt ab, löst Konflikte auf und trifft die Entscheidungen. Allerdings nicht auf einer emotionalen, involvierten Art, sondern auf gedanklich, rationaler Ebene. Meine Therapeutin nannte sie die Alltagsperson.
Jetzt interessiert mich natürlich, wie das bei euch ist. Welche Persönlichkeitsanteile habt ihr in euch? Sind sie euch immer bewusst? Hört ihr jedem gleichberechtigt zu oder gibt es durchaus welche, die ihr gerne wegsperren wollt?
Beitragsbild Harald Wanetschka von Pixelio
Hey Annie,
sehr interessant zu lesen, wie sehr Du zwischen Deinen Anteilen differenzieren kannst! So konkret habe ich noch keine Aufstellung von mir, aber mir fiel auf, dass bei Dir der innere Kritiker nicht so sehr an der Front steht!? Oder er schlengelt sich zwischen Melancholie, Angst und Skepsis hindurch?
Mein innerer Kritiker macht mich schlecht, er sagt mir, was ich alles nicht kann, nicht darf, nicht schaffe. Oft ging es soweit, dass ich deswegen wirklich kein Projekt angefangen habe, weil ich es mir einfach nicht zugetraut habe obwohl es vllt. auch ein paar rationale Gedanken gaben, die dafür sprachen!
Der Kritiker ist zwar noch sehr laut, aber mittlerweile kann ich dem auch ein wenig Kontra geben, wenn auch noch etwas zaghaft. Aber es ist ein Prozess!
Über weitere Anteile muss ich mal unbedingt drüber nachdenken, es ist doch noch recht chaotisch in mir und bei vielen „Sätzen“ weiß ich nicht, welcher Teil in mir das jetzt eigentlich sagt!
Aber vielen Dank für den Beitrag und die Anregung, mal darüber nachzudenken 😉
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Liebe Nora
vielen Dank für deine Rückmeldung! Es freut mich, wenn ich ein wenig zum Nachdenken anregen konnte. Aber denk daran – nur so viel, wie es für einen möglich ist! Das Differenzieren kam bei mir nach und nach. Meine Therapeutin hat letzte Sitzung einen großen Fokus auf meine Anteile gesetzt, so dass ich mich auch damit auseinandersetzen musste. Ich bin ehrlich gesagt selbst erstaunt, welche unterschiedlichen Varianten meines Selbst existieren.
Eine Frage zu deinem Kritiker: Ist er nur einzig allein dazu da, dich schlecht zu machen oder hat er noch eine andere Funktion nach außen? Bei mir mischt sich die kritische Einstellung in unterschiedliche Persönlichkeiten mit ein, z.B. beim Skeptiker. Natürlich kenne ich auch Momente, in denen ich mich selbst nicht leiden mag, mich fertigmache, allerdings bin ich gerade unsicher, ob das eine eigenständiger Anteil ist oder unterschwellig bei anderen mitmischt.
Ein wunderschönes WE!
Annie
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Hallo Annie,
ich denke wir alle haben solche Ichs in uns und je nach Situation kommt ein anderes hervor. Sich bewusst zu werden das alle eins sind und die einzelnen zu erkennen ist schon ein guter Schritt. Es ist ja nicht schlimm wenn der eine mal hervorkommt, solange er nicht überhand nimmt.
LG Tanja
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Liebe Tanja,
ich gebe dir vollkommen Recht! Jeder von uns hat unterschiedliche Persönlichkeitsanteile. Es wird nur dann schwierig, wenn die eher destruktiven Überhand nehmen oder durch Trauma(ta) abgespalten werden. Es ist wirklich gut seine Anteile zu kennen, so dass die positiven weiter bestärkt werden können. Im Grund muss sich für eine gesunde Psyche beides die Waage halten. Kennst du die Bücherreihe von Schulz von Thun „Miteinander Reden“? Da geht es ich meine im dritten Band auch um das innere Team, welches jeder von uns immer wieder an einen Tisch holen muss, damit eine gemeinsame Lösung gefällt werden kann. Sehr lesenswert!
Schönes WE nach Österreich!
Annie
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Hallo Annie,
nein kenne ich nicht, aber ich habe es Gott sei Dank unter Kontrolle. Wenn ich meinem kindischen Ich sage, es soll den Mund halten und die Große reden und entscheiden lassen, dann klappt das ganz gut, meistens gg natürlich ist das nicht mit deiner Situation vergleichbar 😉 aber du bist stark und schaffst das sicher
Danke für den Buchtipp, muss ich gucken.
Liebe Grüße
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Interessanter Ansatz. Dazu hätte ich nun viele Gedanken anzubieten, aber ich probiere es mal mit einer Auswahl: Das „so tun als ob“ ist gar nicht so daneben. Denn manchmal wird aus dem „gefakten“ Gefühl dann die Realität. Im besten Fall sogar öfter. Denn Gefühle sind ja auch Realität. Für mich gibt es aber auch eine andere Beobachtung zur Selbstsicherheit: Es kommt eben auf die Situation an. Als Musiker habe fühle ich mich auf Bühnen sicher. Wenn mich 100 Leute ankucken und jeden Ton hören, egal. Es ist mein Reich, meine Bühne. Dort kann nichts schiefgehen. Das stimmt natürlich nicht, aber das ist mein Gefühl dabei. Es ist genau das Gefühl, das ich gerne überall im Leben mehr hätte, denn wie die meisten Musiker muss ich meine Brötchen mit was anderem verdienen, zumindest überwiegend. Und natürlich erst beim Traum von der Liebe, wie schön wäre es, da zu schwimmen wie ein Fisch im Wasser, mit einem selbstsicheren Lächeln zu fühlen: Baby, du kannst doch gar nicht anders, als mich zu mögen. Aber Pfeifendeckel!
Die Melancholikerin wäre für mich nicht die richtige Wortwahl. Es wäre eher: Der Schwermütige. Denn Melancholie hat für mich auch etwas, das Trauer und Schmerz umarmt, zelebriert, und damit behandelt. Für mich hat das sehr viel mit Gefühl zu tun: Fühlt es sich gut an, was ich mache? Wenn ja, was interessiert mich dann der Rest, was andere denken, wie es „normal“ wäre, und so weiter? Interessiert mich dann kaum. Doch leider ist es ja eine Teil einer Depression, die Gefühle nicht immer so finden zu können und damit bleibt die positive Rückmeldung aus dem Inneren aus und was könnte es dann noch für Gründe geben, etwas zu tun? Tja, aber wenn es nicht ganz so schlimm ist: Fake it. Der Funke kann überspringen und dann geht’s in die Aufwärtsspirale.
Vielleicht steckt hinter jedem dieser Anteile auch ein kindlicher Anteil. Die Hilflose, ja klar, das ist sehr naheliegend, die alte erlernte Hilflosigkeit. Aber die Skeptikerin, wie ist denn der Zweifel hineingeraten? Ist es vielleicht ein Zweifel, der von den Eltern da abgeladen wurde, oder ein fehlendes Zutrauen in die Fähigkeiten einer kleinen Annie? Hat die große Annie nicht schon so unendlich viel gepackt, gestemmt, hinbekommen?
Ich finde es schwierig, dem inneren Kind zu sagen, es soll doch mal ruhig sein. Das hat viel von Selbstablehnung und wenn das Selbstwertgefühl eh schon eine Zitterpartie ist, dann ist das möglicherweise ein leichter Weg in noch mehr negative Selbstbewertung und auch das ist eine Komponente von Depression. Ich stelle mir lieber vor, wie ich den kleinen Kerl an die Hand nehme und ihm sage: Hey kuck mal, ich nehm dich mit in das große Leben, in dem wir beide schon so viel hinbekommen haben. Komm mit ins gute Leben. Es hilft übrigens, wenn man Freunde hat, die Kinder haben. Da kann man viele kindliche Verhaltensweisen erleben und auch in sich selber entdecken.
Nunja, das sind meine Gedanken dazu und meine Versuche, ein zerbrochenes Innenleben nach und nach wieder zusammenwachsen zu lassen. An manchen Tagen fühlt sich das recht gelingend an. An anderen wieder gar nicht. Das wäre dann das Thema: Mit Gelassenheit und Hoffnung unterwegs sein, … ein anderes großes Thema.
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Lieber Piotr,
vielen herzlichen Dank für deinen ausführlichen Text und so viele Anregungen zum Nachdenken. Wie ist das bei dir mit der Musik: Kannst du dieses gute Gefühl, welches du auf der Bühne erlebst in den Alltag hinüber retten? Sozusagen für schlechte Phasen konservieren? Ich musste übrigens schmunzeln, dass du den Ausdruck „Pfeifendeckel“ kennst – hier im Pott kennt das so gut wie keiner, ich jedoch aus meiner Heimat 😀
Ich denke meine Melancholikerin ist so eine Mischung aus deiner Erklärung und deinem Schwermütigen. Einerseits feiert sie die Stimmung, will einfach nicht heraus und andererseits hindert sie mich an allen möglichen Normalitäten teilhaben zu können. Schwierige Lage! Dein Umgang mit deinem kleinen Piotr finde ich super. Ich versuche das auch mit der kleinen Annie – ihr mehr Selbstliebe zu geben, sie an die Hand zu nehmen und damit zu zeigen „Hey kleine Maus, du bist nicht allein!“ Allerdings komme ich mir dabei auch etwas seltsam vor, oftmals gelingt es mir auch nicht.
Mit Gelassenheit und Hoffnung unterwegs klingt sehr spannend als Thema – magst du vlt. etwas darüber schreiben? Ich würde es als Gastbeitrag gerne bei mir annehmen – es sei denn du hast einen eigenen Blog, den ich einfach noch nicht entdeckt haben sollte 🙂
Annie
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Liebe Annie,
Gastbeitrag, mh durchaus eine Idee, eigenes Blog hab ich auch, aber zu anderen Themen. Das hier ist natürlich ein Pseudonym. Schreib mir doch mal eine E-Mail, die Adresse, die Du sicher sehen kannst, ist gültig.
Grüße sendet der Piotr
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Hi Annie,
ja, mein innerer Kritiker ist nur für das schlechtmachen da … wenn es darum geht, andere Sachen/Menschen/Verhaltensweisen kritisch zu betrachten, dann tritt eher der Skeptiker auf die Bühne … insofern sehe ich beide als eigenständige Anteile!
Liebe Grüße,
Nora
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