Heute genau vor 4 Jahren saß ich um diese Uhrzeit im Flugzeug nach Montana. Es war eine aufregende, lange Reise mit zwei Umstiegen innerhalb der Staaten. Das erste Mal bin ich ohne eine Reisebegleitung mit dem Flugzeug über den großen Teich unterwegs. Neben der riesigen Nervosität und Angst war ich auch verdammt neugierig, was mich dort wohl erwarten würde. Aber bevor ich von meinem Aufenthalt erzähle, möchte ich gerne auf die Vorgeschichte eingehen.
Bevor ich in die USA gereist bin, hatte ich eine sehr turbulente Zeit mit vielen Hürden. Nachdem ich 2010 nach 13 Wochen aus der Klinik – kleine Empfehlung von mir „Sonnenbergklinik Stuttgart“ – entlassen wurde, hatte ich für mich schon beschlossen, mein Studium der Sozialpädagogik abzubrechen und mit einem sprachwissenschaftlichen Studium an meine Ausbildung anzuknüpfen. Ich bewarb mich in zwei Städten an den Hochschulen. Das bedeutete für mich, auch meine WG mit einer Freundin aufzulösen.
Die folgende Wohnungssuche – ich wollte wieder in eine WG, aber dieses Mal mit mir unbekannten Menschen – gestaltete sich sehr schwierig. Es gab zu viele Bewerber auf zu wenige Wohnungen. Gleichzeitig zweifelte ich immer mehr an meinem Vorhaben, mit unbekannten Menschen zusammenzuziehen. Kurz bevor meine alte Wohnung auslief, hatte ich mit einer weiteren Freundin einen Besichtigungstermin für eine 2-Zimmer Wohnung, die auch WG geeignet war. Wir beschlossen dort gemeinsam einzuziehen. Im ersten Augenblick war ich richtig erleichtert, nicht auf der Straße gelandet zu sein. Allerdings kam in den darauffolgenden Tagen der Dämpfer. Meine Freundin sagte mir ab, da ihre Eltern gegen einen Zusammenzug seien. Ich war daraufhin in einem Gefühlschaos aus Wut, Enttäuschung und Angst gefangen, beschloss dennoch die Wohnung anzumieten und mir einen Mitbewohner zu suchen. Kurzfassung: Es dauerte fast ein Jahr bis ich eine Person fand, die bereit war mit mir zusammen zu wohnen und die Miete zu zahlen. Ein Jahr lebte ich also weit über meine Grenzen hinaus.
Anfang 2011 entdeckte ich eine Anzeige für einen dreiwöchigen Workshop mit dem Titel „Fortbildung und Selbsterfahrung“ in Ecuador. Ich entschloss mein letztes gespartes Geld zusammenzukratzen und daran teilzunehmen. Bevor es losging telefonierte ich mit der Leiterin Anna, die mir schon in diesem Telefonat vorschlug, zu ihnen nach Montana zu kommen und mir mehr Zeit zu geben. Über diesen Gedanken musste ich erst nachdenken, denn das bedeutete auch eine große finanzielle Belastung. Mein Studium der spanischen Sprachwissenschaften lag zu diesem Zeitpunkt längst wieder auf Eis, weil ich jegliche Motivation und Interesse verloren hatte. Ich weiß nicht mehr wie lange ich über Annas Vorschlag nachdachte, aber einige Wochen später buchte ich den Flug für Mitte Mai.
Meinen Eltern sagte ich erstmal nichts über mein Vorhaben, weil ich wusste sie würden es keinesfalls gutheißen. Kurz vor meinem Abflug schrieb ich ihnen einen Brief mit allen nötigen Informationen. Das erste Telefonat hatten wir dann erst als ich schon vor Ort war. Es war für mich eine gute Erfahrung, etwas ohne das zustimmende Abnicken meiner Eltern entschieden zu haben. Dadurch erlebte ich eine innere Stärkung, obwohl in meinem Hinterkopf leise die Zweifel anklopften. Habe ich richtig gehandelt? Sind meine Eltern jetzt sauer auf mich, weil ich sie in gewisser Weise hintergangen habe? Heute weiß ich es war die einzig richtige Entscheidung!
Also saß ich am 18.5.2011 im Flugzeug und flog einem Abenteuer entgegen. Meine Gastmutter und Therapeutin Anna holte mich nach insgesamt fast 24 Stunden auf der Reise am Flughafen ab. Als sie mich zur Begrüßung in den Arm nahm, fühlte ich mich so willkommen wie lange nicht mehr. Bei ihr zu Hause lernte ich auch gleich ihren Mann und ihren kleinen ShiTzu Joey kennen. Außer mir waren in der Zeit noch 3 weitere Gäste dort – zwei Jugendliche und eine Frau meines Alters. Das Zusammenleben war nicht immer einfach, denn ich war es nicht gewohnt, 24 Stunden am Tag Menschen um mich herum zu haben. Gerade mit den zwei Jüngeren hatte ich manche Konflikte, die mich zeitweise sehr verzweifeln ließen. Trotz allem war die Erfahrung zusammen zu kochen, zusammen das Abendessen einzunehmen und dabei den Tag gemeinsam zu besprechen sowie den nächsten Tag zu planen etwas unheimlich Schönes. Es fühlte sich für mich wie die Zusammengehörigkeit einer Familie an. Das kannte ich bisher noch gar nicht, sondern habe es mir immer nur vorgestellt (und heimlich gewünscht).
Der Tagesablauf war klar geregelt. Es gab jeden Tag etwas arbeitsteilig sauberzumachen – im Haus und auf dem Hof. Denn neben meinem liebgewonnenen Joey wohnten dort noch 5 Ziegen, eine Menge Hühner, zwei Gänse und ein Pferd. Da einige Hühner gerade auf Eier brüteten, durfte ich drei Generationen Küken miterleben. Ich glaube ich habe noch nie in meinem Leben etwas so schönes mitbekommen wie das Piepen der Küken unter der brütenden Henne, was auf ein baldiges Schlüpfen hindeutet. Meine Aufgabe war es der Henne jeden Morgen Futter und Wasser anzubieten. Diese einfache Tätigkeit hatte etwas therapeutisches für mich, denn ich sprach dabei mit ihr, egal ob sie antwortete oder nicht. Neben den freudigen Ereignissen gab es natürlich auch einige traurige Momente. Fast alle Küken wurden von einem Mader gerissen und ein Fuchs holte sich mehrere Hühner.
Mit Anna habe ich sehr viel an mir gearbeitet. Sie riet mir zum Tagebuch schreiben, was mir wirklich geholfen hat, denn ich erkannte dadurch einige destruktive Muster und bemerkte wie unehrlich ich mir selbst gegenüber bin. Am meisten haben mir die tiergestützten Therapiestunden mit ihrem Pferd geholfen. Anfangs war ich so eingeschüchtert von dem Tier und konnte mich überhaupt nicht durchsetzen. Meine erste Aufgabe war wirklich sehr einfach – das Pferd an einem Seil herumführen. Ich verzweifelte schon beim Anblick des Halfters und des Seils, denn ich hatte keine Ahnung von sowas. In meinem Kopf spulten sich verzweifelte Gedanken ab. „Oh scheiße wie macht man das dran, komm schon Annie du darfst nicht versagen, jetzt nimm das Ding und bring es an dem Pferd an, was soll Anna sonst von dir denken, wenn du nichtmal DAS kannst!“ Am Ende nahm ich nur das Seil, legte es dem Pferd um den Hals und ging los. Zumindest wollte ich losgehen, aber das Pferd war der Meinung „Nein du läufst mal schön mit mir!“
Nach und nach gewann ich an Selbstsicherheit und fand die Therapiestunden mit ihm sehr bereichernd. Es ist unglaublich welche Fähigkeiten Tiere haben, einem Menschen den Spiegel der Emotionen vorzuhalten.
Neben den Therapiestunden und unseren Verpflichtungen hatten wir genügend Zeit, um uns auf uns selbst zu konzentrieren. Ich baute mir auf einer Holzbrücke ein kleines Reich, in das ich mich zurückzog, wenn ich alleine sein wollte. Dort schrieb ich Tagebuch, machte Übungen oder beobachtete einfach die Natur. Es war mein kraftspendender Rückzugsort.
Zusätzlich übernahm ich eine ehrenamtliche Tätigkeit in einem Seniorenheim. Ich bediente die Kaffeebar für die Mitarbeiter und Bewohner. Das war allerdings keine einfache Kaffeebar sondern typisch amerikanisch. Espresso, tausend Varianten an Milch und gefühlte hundert Varianten an Sirup. Durch das herzliche Verhalten der dortigen Mitarbeiter habe ich mich sehr wertgeschätzt und angenommen gefühlt. Ein Gefühl, welches ich nicht häufig in meinem Leben erlebt habe. Am Ende war ich dann ein kleiner Spezialist im Espresso zubereiten.
An den Wochenenden haben wir Ausflüge in die nähere Umgebung – eine wunderschöne Natur – gemacht. Sogar die Freunde von Anna und ihrem Mann haben mich gleich willkommen geheißen, als wir dort zum 4. Juli eingeladen waren. Ich kann manchmal noch immer nicht fassen, wie herzlich und offen Menschen sein können ohne einen einzigen negativen Hintergedanken. Liegt es an unserer deutschen Gesellschaft?
Die 2 Monate vergingen viel zu schnell. Ich vermisse heute noch die Herzlichkeit, mit der ich dort empfangen wurde. Mittlerweile ist meine Gastfamilie von Montana nach Florida gezogen. Leider fehlt mir für einen weiteren Besuch das nötige Kleingeld, da ich damals meine restlichen Ersparnisse aufgebraucht hatte. Trotzdem bin ich sicher, dass es ein weiteres Mal bei diesen tollen Menschen geben wird.
Toll erzählt, Unterhaltung pur. Ich war mitten drin, sehr schön. Du hast sicherlich recht mit der Annahme, dass es an unserer Gesellschaft liegt. Richtige, wahre Herzlichkeit, da wo man sich auch geborgen fühlt, gibt es recht selten, viel zu selten. Ich habe mich total von den Menschen zurückgezogen. Nur der Pflegedienst und meine "Gesprächspartnerin" kommt regelmäßig, ansonsten können mich alle mal.Ich hoffe ich werde noch mehr so schöne und bewegende und auch offene Texte bei dir lesen.Vielen DankLG Ede
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Lieber Ede Petervielen Dank für deine schönen Worte. Es tut gut zu hören, dass ich mit meinen Texten jemanden erreichen kann. Fühlst du dich einsam mit den beiden Personen, die du noch hast? Für mich klingt es schon ein wenig traurig. Unsere Gesellschaft lebt nach dem Motto "immer mehr und mehr und mehr und schneller!" Da bleibt für die schönen Gefühlen wenig Zeit. Keine Zeit zum Nachspüren, zum In sich kehren und Reflektieren, zum Weitergeben. Ich habe für mich beschlossen nicht so ein Leben führen zu wollen. Es ist schwierig dagegen anzukämpfen, weil es wie ein Sog wirkt, aber mit mehr Achtsamkeit und Aufmerksamkeit schaffen wir auch die kleinen Schritte. Annie
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Hallo Annie,herrlich, wie Ede schon schreibt, man kommt sich vor, als ob man mit das miterlebt. Bis jetzt habe ich auch noch von niemanden gehört, ohne Stolpersteine solch ein Abenteuer / Therapie zu machen. Sehr schön das du davon vieles mitnehmen konntest und gelernt hast und teilst mit uns ;-)LG Tanja
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Liebe Tanjaauch dir vielen Dank für deine schönen Worte! Weißt du, das Leben wäre doch auch langweilig, wenn wir gar keine Stolpersteine hätten. An der Überwindung können wir ja auch nur wachsen und ganz viel Wissen sammeln. Ich freue mich dich hier willkommen heißen zu dürfen.Annie
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